Ein Kind, zweisprachig aufgewachsen und doch zum Feind erklärt. Dr. Ottfried Pustejovsky erzählt von Flucht, Gewalt, Hoffnung und der inneren Kraft zu vergeben.

Der Junge sprach Tschechisch, glaubte an das Gute und wurde dennoch geschlagen, erniedrigt, vertrieben. Am 5. Juli 2025 erzählte Dr. Ottfried Pustejovsky seine Geschichte. Eine Geschichte der Angst und der Versöhnung.

„Was dann einsetzte, das war nicht Frieden, sondern ein langwieriger Trauerprozess. Von einer Minute auf die andere wurden aus Mitbürgern deutsche Schweine.“

Dr. Pustejovsky

Dr. Ottfried Pustejovsky, Jahrgang 1934, sprach diese Worte im Heiligenhof. Es war still im Raum, keine Empörung, kein Applaus, nur eine spürbare Stille. Denn sein Bericht braucht keine Dramaturgie, er ist das Drama selbst.

Geboren in Mährisch Ostrau, zweisprachig aufgewachsen, wurde er als Kind Zeuge der letzten Kriegstage und der ersten Tage danach, in einer Welt, in der sich alles verschob. Feind wurde Freund, Freund wurde Feind. Die Familie sprach Deutsch aber auch Tschechisch, aber das half nicht. Am 17. Januar 1945, noch unter den Deutschen,  kam der Befehl:

„Sofort einpacken, Frauen und Kinder zur Flucht.“

Dr. Pustejovsky

Dr. Ottfried Pustejovsky
Dr. Ottfried Pustejovsky

Der Zug, der sie in den Westen bringen sollte, hielt immer wieder an. Es waren minus 20 Grad. Dr. Pustejovsky, damals zehn Jahre alt, sah mit eigenen Augen, wie tote erfrorene Säuglinge aus den Waggons getragen wurden. Seine Mutter hatte für ihn und die Schwester Mäntel aus alten Pelzen genäht, das rettete ihnen das Leben.

Er berichtet ruhig, fast sachlich. Doch die Bilder, die er aufruft, sprechen für sich. Die Angst, dass seine kleine Schwester durch ihr Rufen nach der Mutter eine Vergewaltigung durch sowjetische Soldaten auslöst.

“Davaj casy” gib mir die Uhr, der Moment, als er mit elf Jahren eine Uhr, ein Geschenk des Vaters, heimlich in die Hose gleiten lässt, um sie vor Plünderung zu retten.

„Ich habe eine Woche lang niemandem gesagt, dass ich sie noch habe.“

Dr. Pustejovsky

Was folgt, ist ein Hin und Her zwischen Flucht und Rückkehr. Die Hoffnung, dass man als zweisprachige Familie verschont bleibt. Dann aber Zwangsarbeit, Gewalt, Deportationsbefehl und der Versuch, sich zu tarnen.  Ottfried wird zu „Otik“, Elsbeth zu „Eliška“. Das „N“, das Kennzeichen für „Němec“ (Deutscher), wird abgerissen.

N
N

„Ich schaute durch das Kellerfenster. Als ich wieder zu mir kam, lag ich sechs Meter weiter, war völlig taub und blieb es eine Woche lang.“

Dr. Pustejovsky

Sie verstecken sich bei einem entfernten Verwandten. Es sind tschechische Nachbarn, die helfen und seine Mutter, eine Frau, die Schläge und Drohungen überlebt. Die Trümmer schleppt, die ihren Kindern beibringt:

„Ihr dürft nicht hassen.“

Maria Pustejovsky

In Fulnek besucht Ottfried eine tschechische Schule und bekommt in Tschechisch bessere Noten als die tschechischen Kinder.

Dr. Ottfried Pustejovsky
Dr. Ottfried Pustejovsky

Er überlebt alles, auch die Transporte, auch die Enge, die Kälte, das Misstrauen in Bayern, auch die Ignoranz eines Bürgermeisters, der meint, der Junge solle Maurer werden, nicht aufs Gymnasium gehen.

Doch Ottfried schafft es bis zu Abitur, dann das Studium und letzendlich den Staatsdienst. Danach kommt die eigene Forschung. Dr. Pustejovsky schreibt Bücher über Joachimsthal, über Aussig, über Vertreibung und Uranabbau. Aber nicht mit Hass, sondern mit Verständnis und mit dem Wunsch, die Dinge beim Namen zu nennen, ohne die Würde des anderen zu verlieren.

Der Vortrag war keine Anklage, kein nationalistischer Rückgriff, sondern ein leiser, klarer Appell. Seht hin, hört zu und urteilt nicht vorschnell. Dr. Pustejovsky sprach über Täter, aber auch über Helfer, über die Schuld, aber auch über den Schicksal.

Er sprach über die Archive, die Aktenvernichtung, über einen Mann namens Pokorný, der erst für die Gestapo arbeitete, dann für die tschechoslowakische Sicherheitspolizei und schließlich den Brünner Todesmarsch organisierte.

Aber im Zentrum blieb der kleiner Junge aus Mährisch Ostrau, der Tschechisch sprach und dem man dennoch sagte, er sei „nur ein deutsches Schwein“. Heute, mit über 90 Jahren, spricht dieser Junge zu uns nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Tschechisch. Er sprich nicht um sich zu rächen, sondern um zu erinnern und um zu versöhnen.

Deutsch https://www.henryertner.com/ein-junge-aus-maehrisch-ostrau-der-tschechisch-sprach/

English https://medium.com/@henryertner/a-boy-from-moravsk%C3%A1-ostrava-who-spoke-czech-2e7930add6db

Česky https://medium.seznam.cz/clanek/henry-ertner-chlapec-z-moravske-ostravy-ktery-mluvil-cesky-166536


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