Wie sehr müssen wir uns verkleinern, um zu überleben? Ein Nachdenken über Anpassung, den Verlust von Sprache und Identität, Familiengeschichten und darüber, wie sich die Kette des „Klein Machen“ durch Verständnis und Versöhnung durchbrechen lässt.
Vor einiger Zeit las ich Dr. Dain Heers Buch Being You, Changing the World und stieß auf eine Metapher, die mich innerlich erschüttert hat. Dr. Dain Heer vergleicht Beziehungen mit dem Versuch, sich die Arme und Beine abzuschneiden, nur um in einen winzigen Mini Cooper zu passen, alles Opfer einer Liebe wegen, die uns „retten“ soll.
Wir glauben, uns opfern zu müssen, um geliebt zu werden, um zu überleben, in einer Beziehung, in einem Land. Doch was, wenn dieses „Klein Machen“ nicht nur die Beziehung, sondern auch das Leben im Wandel bedroht?
Mini Cooper und der kleine Gatter, ein Symbol für die Anpassung oder das Überleben?
Der Mini Cooper, ein Symbol der britischen Automobilindustrie, ein Volksauto. Klein, charmant, praktisch, sehr ähnlich wie der „klein Gatter“ viele Jahre vor dem Mini Cooper. Beide klingen niedlich, unaufdringlich, sind durch aus stabil und berechenbar. Aber was kostet uns diese Stabilität? Wie viel von uns passt da rein und wie viel passt da nicht mehr? „Klein Gatter“ hat es in die heutige Zeit nicht geschafft, Mini Cooper schon.
„Wir schneiden uns zurecht, um zu überleben.“
Henry Ertner
Wir passen uns familiären Erwartungen an, wir geben unsere Sprache im Verlauf der Zeit unter schwierigen Umständen auf, wir geben unsere Träume auf. Wir verstummen, um geliebt zu werden oder zumindest nicht zu stören oder einfach nur um die Ruhe zu haben.
Mein Vater Jan und das „Klein Machen“
Mein Vater Jan passte sich klein, ganz still und unaufdringlich. Er ließ seine Träume zurück, gab seine Muttersprache auf, verlor fast seine Identität. Bis zur Schule mit sechs Jahren sprach er nur deutsch. Auf die Frage „Wer bist Du? Wie fühlst Du dich?“ in meiner Dissertation antwortete er „Ich bin ein Europäer“ um nicht zwischen „Deutscher“ oder „Tscheche“ wählen zu müssen.
Sein Leben war ein Wandel um Identität herum. In einem Gespräch ein Jahr vor seinem Weggang flüsterte er: „Ich fühle mich doch als Tscheche.“ Doch auf seinem Sterbebett vor einem Jahr sprach er nur noch Deutsch. In seiner Welt suchte er nach einem Mechanismus, wie man in Tschechien überleben kann. Er fand Zuflucht in den Bergen, im Bier, im Bridgespielen und in der Gartenarbeit. Bis es zu viel wurde und dann ist er gegangen.
Großvater Heinrich, verloren in seiner Heimat und sein „Klein Machen“
Mein Großvater Heinrich, geboren im Österreich-Ungarn, später Staatsbürger der Tschechoslowakei, dann des Deutschen Reiches, lange Staatenlose, und schließlich wieder ein Bürger der Tschechoslowakei. Er sprach nur Deutsch und arbeitete in einem Bergwerk, ein lebensrettender Schutzwall gegen Krieg und Vertreibung.
Der Bergmann, der rauchte und trank, um „Klein“ zu bleiben. Nicht auf falsche Gedanken zu kommen, nicht sich Einbringen und vor allem diese Flut von Gefühlen und Emotionen zu stoppen. Der Alkohol wurde zur Maske. Für fast alle männlichen Familienmitglieder ein Thema. Für einige war der „Dämon Alkohol“ tödlich. Sie wollten nicht spüren.
Wie viel passt wirklich?
Wir schneiden uns Teile des eigenen Seins ab, um zu überleben, um nicht zu fühlen, um uns selbst zu schützen. Ich spüre das in mir. Ich kann keinen Alkohol trinken, er tut mir nicht gut. Ich kann nur schwer in die sudetendeutschen Gebiete fahren. Die Energie dort ist nach 80 Jahren immer noch greifbar, überall dort, wo Menschen leben, die alles vergessen haben und nichts wissen wollen. Weg ist doch weg!
Eine vertraute Person fragte mich „Bist du dir bewusst, welches Schicksal du trägst? Dass deine Vorfahren so wenig verarbeitet haben? Willst du diese schwere Energie an deine Kinder weitergeben?“
Meine Antwort war klar, ich will, dass diese Kette mit mir zerbricht. Ich möchte vergeben, versöhnen, im Gespräch Verständnis schaffen. Deswegen schreibe ich diese Zeilen, um zu zeigen, dass ich dieses Land liebe, auch wenn es meine Emotionen oft hochkochen lässt. Ich hoffe, mehr Menschen finden den Weg zu sich selbst, zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, zu dem Verständnis, dass man die abgeschnitten Arme und Beine wieder haben kann.
„Frieden kann nicht durch Gewalt erhalten werden. Er kann nur durch Verständnis erreicht werden.“
Albert Einstein
Dieses Verständnis entsteht im Austausch, in einem Gespräch, „Alles leben ist Begegnung“ wie es so schön auf dem Eingangsschild von Heiligenhof steht, nur so können wir die Wunden unseres „Klein Machen“ öffnen und heilen.
Der Weg aus dem „Klein Machen“ beginnt im eigenen ich
Wir sind keine Mini Coopers, wir sind Menschen, mit Träumen, Sprachen, Identitäten. Wir müssen uns nicht verzerren, um „zu passen“. Wir dürfen wachsen und uns zeigen, unsere Realität des Seins zulassen.
Verzeihen wir uns selbst, lernen wir zu verstehen und die Ketten des „Klein Machen“ zu brechen, nicht mit Gewalt, sondern mit Empathie, mit Sprache, mit Gesprächen über die Geschichte, auch dann, wenn es schmerzvoll ist. Mit Gesprächen über uns selbst, mit einem Gefühl der tiefen Geborgenheit und warmherzigen Menschlichkeit.
Deutsch https://www.henryertner.com/wie-klein-muss-man-werden-um-zu-ueberleben/
English https://medium.com/@henryertner/how-small-must-one-become-in-order-to-survive-f886f697a126
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