Ein Umweg nach Zadov wird zur Reise in meine Kindheit und zur Erkenntnis, dass ich die rote Pille längst geschluckt habe.

Es war eigentlich nur ein kurzer Abstecher. Ich hatte ein paar Stunden Zeit, als ich durch den Bayerischen Wald nach Böhmen fuhr, und nahm die Abzweigung hinauf nach Zadov (Churanow), beziehungsweise Churáňov, wie der Ort auf Tschechisch heißt. Ein kleiner Umweg, ein paar Kilometer nur. Doch die Erinnerungen, die mich dort einholten, waren so viel größer, dass der Weg plötzlich schwerer wog als die vielen Kilometer, die ich an diesem Tag auf der Straße zurückgelegt hatte.

Als kleiner Junge hatte ich hier ganze Sommer verbracht. Mein tschechischer Großvater, meine Tante und wir Kinder, meine kleine Schwester und ich, teilten uns diese Zeit zwischen den Wäldern, den Wiesen und den schlichten Pensionen, die damals schon in die Jahre gekommen waren. Für uns Kinder aber war es das Paradies, Pilze sammeln, stundenlang durch die Wälder streifen, die Sonne im Gesicht und die Sicherheit, dass irgendwo im Hintergrund die vertrauten Stimmen von Erwachsenen waren.

Zwei Wirklichkeiten

Vor kurzem sprach ich im engen Familienkreis über einen meiner letzten Texte, in dem ich fragte: „Wie klein muss man werden, um zu überleben?“ Dabei wurde mir deutlich, dass dieses „Kleinwerden“ nicht nur in der deutschen Familiengeschichte meines Vaters eine Rolle spielte, sondern ebenso in Böhmen, mitten in meiner tschechischen Familie. Auch dort bedeutete Überleben, den Kopf einzuziehen, sich zu ducken, stillzuhalten. „Wir gingen nicht wie alle anderen den Weg“, hieß es. „Wir traten der Partei nicht bei, wir erzählten zu Hause etwas anderes, als wir draußen sagten.“

So entstanden zwei Wirklichkeiten, die nebeneinander existierten und doch nie ganz zueinanderfanden. Eine offizielle und eine geheime, eine laute und eine leise. Eine Welt, in der man wusste, dass Schweigen Sicherheit bedeutete, während Worte draußen gefährlich werden konnten.

Erinnerungen im Böhmerwald

Als ich mein Auto nun vor einem der Hotels in Zadov abstellte, musste ich schmunzeln. Neue Fenster, ja, aber sonst sah das Gebäude fast so aus wie damals vor fünfunddreißig Jahren. Ein merkwürdiges Gefühl, als wäre die Zeit zwar vergangen, aber nicht spurlos, sondern nur mit kleinen Korrekturen.

Ich ging spazieren, und sofort kehrte das alte Gefühl zurück, Pilze sammeln mit meinem Großvater, der immer seine geheimen Stellen kannte. Kleine Orte im Wald, die er mir zeigte, fast so, als würde er mir einen Schlüssel übergeben. Das Geräusch der Schritte auf dem weichen Waldboden, das Licht zwischen den Bäumen, das Schweigen, das doch voller Leben war, all das stieg wieder in mir auf.

Damals, als Kind, war die Grenze allgegenwärtig. Wir blieben immer davor stehen. Vor den Wachposten, vor den Schranken, vor den Hunden, die bellten. Es war unvorstellbar, dass man eines Tages einfach so hinübergehen könnte. Heute dagegen bin ich achtlos über die Grenze gefahren, habe es kaum bemerkt und wusste, ich könnte jederzeit zurück.

Interessanterweise war etwas nicht da, was mich sonst oft in Sudetenland begleitet, diese bedrückende, dunkle Energie, die ich im Riesengebirge manchmal so stark spüre. Vielleicht liegt es an der Natur, vielleicht daran, dass diese Ecke des Böhmerwaldes näher an Bayern ist. Vielleicht daran, dass die Menschen hier im Ernstfall schneller fliehen konnten, schneller über die Grenze gelangten.

Ich dachte an meinen Großvater und an meine Tante, dankte ihnen still für diese Zeit meiner Kindheit. Diese Sommer gehören zu den kostbarsten Erinnerungen, die mir geblieben sind.

Die rote Pille

Danach ging ich essen. Auch das war wie eine Zeitreise. Es gab nur Smažák s hranolky (panierter Käse mit Pommes). Genau das, was ich schon als Kind gegessen hatte. Ich lachte leise, als der Teller kam. Alles sah gleich aus, sogar der Geruch war derselbe. Manche Dinge ändern sich nicht, oder sie ändern sich so wenig, dass man es kaum bemerkt.

Ich saß da, aß meinen Käse und fragte mich. Wie würde diese Gegend aussehen, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre? Wenn sich die Tschechen und die Deutschen in Böhmen vertragen hätten? Wäre das hier dann ein Ort wie das Allgäu oder wie ein österreichisches Alpendorf? Gepflegt, offen, selbstbewusst?

Doch ich weiß, dass ich mir diese Gedanken nicht zu weit treiben darf. Denn dann kommen die Gespenster zurück, die mich immer wieder heimsuchen, wenn ich mich in diese Fragen verliere. Gespenster, die nicht vertrieben, sondern nur geheilt werden können.

Also saß ich da, nahm den nächsten Bissen und sagte mir, es ist so, wie es ist, man muss damit leben. Als ich später wieder ins Auto stieg und die Straße hinunterfuhr, erinnerte ich mich an einen Film, der seit über zwanzig Jahren wie ein Spiegel unserer Wirklichkeit wirkt „The Matrix“. Dort sagt die Figur Cypher in einer entscheidenden Szene:

Ignorance is bliss.

Cypher in The Matrix

Unwissenheit ist Glück. Er entscheidet sich für die bequeme Lüge, für die blaue Pille, die ihm erlaubt, weiter in einer Illusion zu leben. Die Metapher von der roten und der blauen Pille ist längst in unsere Kultur eingegangen. Die blaue Pille steht für Vergessen, für ein sanftes Weiterträumen. Die rote Pille dagegen zwingt dazu, die Augen zu öffnen, auch wenn man Dinge sieht, die man lieber nicht gesehen hätte.

Als Kind bekam ich nur die blaue Pille. Zadov war damals reine Idylle für mich. Wald, Sonne, Pilze, panierter Käse. Alles war heil, weil ich nicht sehen konnte, was dahinter lag. Heute dagegen spüre ich, dass ich längst die rote Pille genommen habe. Ich sehe die Schichten der Geschichte, die Brüche, die Doppelbödigkeiten. Ich kann nicht mehr zurück.

Vielleicht ist genau das die Lektion, die mir dieser kleine Umweg in den Böhmerwald gegeben hat. Ich kann die Vergangenheit nicht ignorieren, auch wenn ich es manchmal möchte. Aber ich kann wählen, wie ich mit ihr lebe. Ob ich mich von den Schatten lähmen lasse, oder ob ich die hellen Erinnerungen an meinen Großvater, an meine Tante und an die Sommer meiner Kindheit in den Vordergrund treten lasse. Das ist meine rote Pille, zu wissen, dass beides existiert, die Dunkelheit und das Licht.

Deutsch https://www.henryertner.com/ignorance-is-bliss-warum-ich-die-rote-pille-geschluckt-habe/

English https://medium.com/@henryertner/ignorance-is-bliss-why-i-swallowed-the-red-pill-45fde4c65d67

Česky https://medium.seznam.cz/clanek/henry-ertner-ignorance-is-bliss-proc-jsem-spolkl-cervenou-pilulku-182144


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