Fünf tausend Selbstmorde in drei Monaten? Dr. Kateřina Portmann sprach im Heiligenhof über Angst, Schuld und die dritte Republik. Als einzige Frau, als Tschechin, als Stimme der Ehrlichkeit. Ein Vortrag, der tiefer geht als Gut und Böse.

Ich habe schon über Dr. Kotzian „Nur ein Taschentuch zum Weinen“, Prof. Kittel „Hitlers Geist lebt weiter“ und Dr. Pustejovsky „Ein Junge aus Mährisch Ostrau“ geschrieben. Jeder dieser Vorträge im Heiligenhof hat mich berührt und zum Nachdenken gebracht.

Aber was Dr. Kateřina Portmann gesagt hat, geht noch weiter. Sie war die einzige Frau unter den Referenten und nicht nur das, Sie war die einzige Stimme aus Tschechien. Zu Beginn sagte Sie mit einem Lächeln:

„Das deutsche Grammatik ist für mich einfach ein böhmisches Dorf.“

Dr. Portmann

Alle lachten, doch ich spürte sofort, dass das mehr war als ein Sprachwitz. Da steht jemand, der sich freiwillig auf fremdes Terrain begibt.

Dr. Portmann sprach über die Dritte Tschechoslowakische Republik. Ein Begriff, den ich so vorher kaum bewusst wahrgenommen hatte. Die Jahre 1945 bis 1948, als die Tschechoslowakei versuchte, sich neu zu erfinden. Demokratie? Nicht wirklich, die Kommunisten waren schon im Hintergrund sehr aktiv.

„Es ist eine Demokratie, aber nicht in dem klassischen parlamentarischen Sinn, weil einfach keine Opposition da ist.“

Dr. Portmann

Schon dieser Satz wirft Fragen auf. Dr. Portmann erklärte, wie mit den so genanten Beneš Dekreten nicht nur Besitz, sondern auch Identität, Leben und Zukunft enteignet wurden, aber am meisten schockierte mich etwas anderes. Ein Punkt, den ich in dieser Deutlichkeit nie gehört und auch nicht wahrgenommen hatte.

„Laut den Berichten gab es in dieser kurzen Zeit 5.000 bis 6.000 Selbstmorde von der deutschen Bevölkerung.“

Dr. Portmann

5.000 bis 6.000 Selbstmorde in drei Monaten zwischen Mai und Juli 1945. Diese Zahl stand plötzlich zwischen uns im Raum, schwer und unausweichlich.

Dr. Portmann sagte das mit leiser Stimme, gerade deshalb wirkte es umso mehr. Sie sprach von Liberec, ihrer Heimatstadt, von Matriken, von Zahlen, die plötzlich Gesichter bekommen. Vor allem alte Menschen, aber auch kleine Kinder, ganze Familien haben sich das Leben genommen, weil sie keine Zukunft gesehen haben.

Ich musste daran denken, wie oft wir heute über Geschichte sprechen, als wäre sie ein Theaterstück. Gut gegen Böse, Opfer gegen Täter. Portmann zeigte uns, dass die Wirklichkeit deutlich komplizierter ist.

Ihr ganzer Vortrag war eine Einladung zum genauen Hinschauen. Wer waren die Deutschen? Warum wurde gerade Liberec (Reichenberg), so hart getroffen? Ich habe während der Konferenz viele Stunden mit Zuhören verbracht. Dieser Nachmittag hat mir gezeigt, dass wir nie fertig sind mit dem Verstehen, dass es immer noch blinde Flecken gibt.

Dr. Portmann erwähnte zum Beispiel eine Karikatur aus der Zeit. Zwei Damen Frankreich und England, schauen auf deutsche Kinder, die mit menschlichen Schädeln spielen. Die Unterschrift lautet: „Schaut, wie die kleinen Deutschen wieder Krieg spielen.“

„Gewalt bringt Gewalt, das bedeutet nicht, dass ein Unrecht das andere rechtfertigt, sicher nicht, aber es ist einfach die Tatsache.“

Dr. Portmann

Diesen Satz nehme ich persönlich mit. Er spiegelt auch mein eigenes Ringen. Kann man vergeben, ohne zu verharmlosen? Kann man benennen, ohne neues Unrecht zu schaffen? Dr. Portmann hat darauf keine einfachen Antworten gegeben, aber sie hat ihre eigene Antwort gefunden, als Historikerin aus der Tschechischen Republik, die offen über die Schattenseiten der eigenen Geschichte spricht, auf Deutsch, mit Herz und Verstand.

Ich glaube, genau das ist der Weg, nicht neue Mauern bauen, sondern „Alles Leben ist Begegnung“ den Leitsatz des Heiligenhofs, mit eigenem Herzblut füllen. Es sind dann Sätze wie dieser, die helfen.

„Ich liebe die deutsche Sprache. Es ist wunderschön.“

Dr. Portmann

Wenn eine Frau aus Liberec das sagt, mit tschechischem Akzent, aber klarer Stimme, dann bedeutet das mehr als alle politischen Erklärungen.

Ich wünsche mir, dass noch mehr solcher Stimmen gehört werden. Nicht nur auf Konferenzen, sondern auch im Alltag. Wenn ihr wollt, schaut euch auch meine anderen Texte an, sie gehören zusammen, wie ein Kapitel in einem langen, noch nicht abgeschlossenen Buch der Versöhnung.

Deutsch https://www.henryertner.com/fuenf-tausend-selbstmorde-in-drei-monaten/

English https://medium.com/@henryertner/five-thousand-suicides-in-three-months-c3158dff9572

Česky https://medium.seznam.cz/clanek/henry-ertner-pet-tisic-sebevrazd-za-tri-mesice-167710


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