Was kann KI in den Geisteswissenschaften und was nicht? Eine internationale Tagung in Prag zeigte Chancen, Grenzen und neue Wege für Übersetzung, Modellierung und Mensch-Maschine-Zusammenarbeit.
Am 15. und 16. Mai 2025 durfte ich in Prag an einer Tagung teilnehmen, die mich als Spracforscher im besten Sinne gefordert und inspiriert hat. Der Titel: „Automated context? Practices, opportunities and risks of AI-driven translation in the Humanities (Czech-German DH workshop) “.
Organisiert wurde die Tagung vom Collegium Carolinum, der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Tschechischen Akademie der Wissenschaften.
Mein besonderer Dank gilt Johannes Gleixner, Eckhart Arnold, Florian Ruttner und Florian Landes. Diese Namen stehen für eine Form von Wissenschaft, die nicht auf sich selbst schaut, sondern Brücken baut, zwischen Ländern, Disziplinen und Sprachen.
Masaryk, dreifach gelesen und dreifach gesteuert
Schon zu Beginn der Veranstaltung stand Tomáš G. Masaryk im Fokus bei Lucie Merhautová und zwar mit einem Vergleich seiner politischen Memoiren, veröffentlicht als:
- Světová revoluce (Tschechisch)
- Die Weltrevolution (Deutsch)
- The Making of a State (Englisch)

Aus diesen Titeln sehen wir, wie Sprache in der Übersetzung gezielt gelenkt werden kann. Die Auswahl von Begriffen, Tonfall, Titelgestaltung, nichts davon ist zufällig. Ein und dasselbe Werk, drei verschiedene Wirklichkeiten.
In der tschechischen Version spricht Masaryk seine Tschechen emotional an. Die deutsche Version wählt einen nachdenklich abstrahierenden Ton. Die englische Version wirkt staatsmännisch und diplomatisch, umgeschrieben für ein westliches Publikum.
Wer die Sprache steuert, steuert die Rezeption. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber selten wurde sie so greifbar gemacht wie hier und das auch ohne KI.
Von der Modellierung zum Sinn
Prof. Dr. Øyvind Eide (Universität Köln, Digital Humanities) stellte in seiner Keynote die zentrale Frage: Was passiert, wenn wir historische Quellen in Daten verwandeln?
Seine Antwort war ebenso klug wie präzise:
We do not understand the past as it was. We understand it through traces that we interpret. And when we model, we influence that interpretation.
Modellierung ist also nie neutral, sie vereinfacht, sie verändert, sie macht etwas sichtbar, aber auch vieles unsichtbar.

Digital Humanities brauchen Struktur, aber auch Verantwortung. Ein KI-Modell kann keine Bedeutung erzeugen, es kann sie nur simulieren. Hier beginnt unsere Aufgabe nicht blind vertrauen, sondern mitdenken, nachprüfen, interpretieren.
KI in der Praxis, ohne geht es (fast) nicht mehr
Der zweite Tag brachte eine Reihe konkreter Projekte und eine zentrale Einsicht. Ohne KI sind viele geisteswissenschaftliche Arbeiten kaum noch realistisch umzusetzen. Nicht, weil wir nicht könnten, sondern weil wir sonst Jahre bräuchten.
Ob bei der Analyse mehrsprachiger Geodaten (Silvie Cinková & Petr Plecháč), der Verschwörungstheorien in Medien (Michael Škvrňák) oder bei der automatisierten Übersetzung spätmittelalterlicher Reichsurkunden (Frederik Skidzun).
Künstliche Intelligenz hilft, beschleunigt, aber ersetzt nicht unsere Kontrolle. Das Arbeiten mit KI funktioniert in kleinen, überprüfbaren Schritten, so das wir Menschen weiterhin unsere zentrale Steuerungsrolle beibehalten.
Ortsnamen in Bayern als Indikatoren der Mehrsprachigkeit
Wolfgang Janka und Florian Landes (Digital Humanities, Bayerische Akademie der Wissenschaften, München) zeigten eindrucksvoll, wie man aus scheinbar „statischen“ Dingen wie Ortsnamen historische Sprachenvielfalt rekonstruieren kann.

Aus Ortsnamen werden Schlüssel für die Verständnis der Vergangenheit. Wo wurden welche Sprachen gesprochen, verdrängt, bewahrt? Ein stilles Thema, aber mit großer Wirkung, gerade im heutigen Europa.
Mensch bleibt Mensch, auch mit KI Unterstützung
Für mich war diese Tagung mehr als eine wissenschaftliche Veranstaltung. Die Tagung war ein Beispiel dafür, wie gute Forschung heute aussieht, nämlich kollaborativ, interdisziplinär und menschlich.
KI wird unseren Umgang mit Sprache, Geschichte und Daten revolutionieren, aber wir müssen sie klug nutzen, nicht als Ersatz für das Denken, sondern als Verstärker von Erkenntnis. Ich gehe mit drei Überzeugungen nach Hause:
- Ohne KI kommen wir in den Digital Humanities nicht mehr weit.
- Mit KI allein kommen wir aber auch nicht weit genug.
- Die Rolle des Menschens ist weiterhin unersetzlich.
Original Digital Humanities in Prag, was KI kann und was nicht? — www.henryertner.com
English https://medium.com/@henryertner/digital-humanities-in-prague-what-ai-can-and-cannot-do-90f4c96af3f1
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