Ein dunkler Spiegel tschechischer Geschichte – Postoloprty 1945 – steht für ein Trauma, das bis heute wirkt. Was einst verschwiegen wurde, lebt weiter, in den Kindern, Enkeln, in uns. Die Heilung beginnt mit dem Hinsehen.
Am Heiligenhof in Bad Kissingen saßen wir zusammen, nachdem Ulrich Miksch uns Almar Reitzners Bericht nahegebracht hatte. Wir hatten gegessen, geredet, aber vor allem geschwiegen. Dann haben wir uns einen Film mit Ulrich Miksch angeschaut „Postoloprty 1945 – die tschechische Vergeltung“. Der Film begann leise, doch was wir sahen, ließ uns sprachlos zurück.
Ein Film, der keine fiktive Geschichte erzählt, sondern der wörtlich die Protokolle der tschechoslowakischen Untersuchungskommission von 1947 nachspielt. Wort für Wort, die Aussagen, der verzweifelte Versuch, die Wahrheit zu begraben, weil sie der jungen Republik schaden könnte.
Ich habe ihn zum ersten Mal gesehen und gespürt. Das hier ist mehr als ein Film, es ist ein Spiegel, ein dunkler Spiegel der Wahrheit. Postoloprty, deutsch Postelberg, ein kleiner Ort im böhmischen Becken. Im Juni 1945 wurden dort tausende deutsche Zivilisten, Männer, Frauen, Jugendliche, zusammengetrieben, festgehalten, gefoltert, vergewaltigt und ermordet. Alles unter dem Deckmantel der „tschechischen Vergeltung“ durchgeführt. Am Anfang des Films steht eine Frage, die mich fröstelte:
„Kdo prováděl v Postoloprtech exekuce a popravy?“
„Wer führte in Postoloprty die Exekutionen und Erschießungen durch?“
[0:00]
Die Antwort auf diese Frage:
„Já o žádných popravách nevím.”
„Ich weiß von keinen Erschießungen.“
[0:05]
Ein Satz, der sich durchzieht wie ein Echo, aber es waren Erschießungen, organisiert vom Obranné zpravodajství (OBZ) dem Militärischen Nachrichtendienst der Tschechoslowakei, einer Einheit, die nach sowjetischem Vorbild geschaffen wurde. Der Kommandant dieser Einheit bekam seine Befehle direkt aus Prag. In einer weiteren Szene heißt es:
„Příkaz jsme dostali v Praze. Generál Španěl nám tehdy řekl, jděte vyčistit rajon, aby se mohla přestěhovat divize.“
„Wir bekamen den Befehl in Prag. General Španěl sagte damals zu uns: Säubert das Gebiet, damit die Division verlegt werden kann.“
[43:27]
Die Republik hatte sich den Sowjets verschrieben, um den Preis der Vertreibung. Edvard Beneš und seine Regierung schafften und akzeptierten diese Logik. Im Film wird es ausgesprochen:
„Honžova komise byla fraška.“
„Die Honža-Kommission war eine Komödie.“
[48:42]
Denn wer ermittelte? Die gleichen Männer, die zuvor die Befehle gegeben hatten. Ein General formulierte es noch direkter:
„Pamatujte, že dobrý Němec je mrtvý Němec.“
„Merkt euch, ein guter Deutscher ist ein toter Deutscher.“
[43:43]
Ich saß da, hörte zu, und mir wurde klar, dieser Hass, diese Planung der Ausradierung hatte Wurzeln, die weit vor 1945 reichten. Die Erfindung des tschechischen Nationalstaats nach 1918 war unvollkommen geblieben.
Die Erfolge der Ersten Republik beruhten auf den deutschsprachigen Juden und den Deutschen, die als Ingenieure, Unternehmer, Wissenschaftler, das Land aufbauten. Hitler hatte die Juden ausgelöscht. Die arbeitsamen Sudetendeutschen, ein wirtschaftliches Rückgrat, wurden von Beneš ausgelöscht. Was blieb? Ein Schatten der ehemaligen Größe. Jan Urban sagt es im Film offen:
„Česká společnost nedospěje, pokud si nepřizná, že tahle ta operace vyhnání německého obyvatelstva byla předem plánovaná, dopodrobna naplánovaná a že byla svěřená Československé armádě.“
„Die tschechische Gesellschaft wird nicht reif, solange sie sich nicht eingesteht, dass diese Vertreibungsoperation im Voraus und bis ins Detail geplant war und der tschechoslowakischen Armee übertragen wurde.“
[49:52]
Diese Worte hallten in mir nach. Gerade weil ich an jenem Abend die Kinder und Enkel jener Männer vor Augen hatte, die geschossen, geplündert, vergewaltigt hatten und unbehelligt geblieben waren. Die Beneš-Dekrete schützten sie.
Ihre Nachkommen leben heute in der Tschechischen Republik und sie tragen diese Energie weiter. Transgenerationelles Trauma heißt es so schön. Wer dazu forscht, liest etwa „Historical Trauma and Unresolved Grief“ (HEARTS 2003), oder „Conscience and Courage: Rescuers of Jews During the Holocaust“ (FOGELMAN 1994) oder gerne als Film „Der Krieg in mir“ (HEINZEL 2019).
Trauma kann sich über mehrere Generationen fortsetzen. Transgenerationales Trauma beschreibt die unbewusste Weitergabe von traumatischen Erfahrungen an nachfolgende Generationen. Besonders bei Überlebenden von Gewalt, ob als Opfer oder Täter, wird beobachtet, dass deren Kinder und Enkel Symptome wie Angstzustände, Depressionen, Schuldgefühle oder Albträume entwickeln, ohne selbst das ursprüngliche Trauma erlebt zu haben.
Die emotionale Last „blutet“ förmlich in die nächste Generation über, durch veränderte Erziehungsmuster, Bindungsverhalten und sogar biologische Veränderungen. Moderne Forschung, unter anderem von Dr. Rachel Yehuda (YEHUDA 2015), hat gezeigt, dass schwerer Stress oder Trauma epigenetische Veränderungen hervorrufen kann. Diese chemischen Modifikationen der DNA beeinflussen die Genaktivität und wurden bei Nachkommen von Trauma-Überlebenden nachgewiesen.
Ich kenne tschechische Freunde, die diese innere Unruhe tragen, die nicht wissen, woher sie kommt. Der Film zeigt die rohe Natur der Dinge absolut ungeschminkt an mehreren Stellen. Ich als Vater von Teenagern war bei dieser Szene absolut sprachlos.
Fünf Jungen, 14 bis 15 Jahre alt, die fliehen wollten, wurden erschossen, die anderen mussten zusehen. Einer der Väter saß in der ersten Reihe und musste zuschauen. [33:00] Die Kinder der Täter leben zwischen uns, auch wenn die Täter schon längst Tod sind, bleibt die Energie in der Gesellschaft erhalten.
Trauma kann sich bis in die dritte Generation und darüber hinaus auswirken, aber es bedeutet nicht, dass zukünftige Generationen unwiderruflich davon betroffen sind. Forscher betonen, dass das Anerkennen und Behandeln von Trauma in der ersten Generation den Kreislauf durchbrechen kann. Wie es eine Expertin formulierte:
„Schmerz wandert durch Familien, bis jemand bereit ist, ihn zu fühlen.“
Katja Duregger
Was relativ neu ist, ist unser Verständnis der Mechanismen (wie Epigenetik) und die hoffnungsvolle Erkenntnis, dass diese Effekte nicht dauerhaft sein müssen. Was tun wir heute mit diesem Wissen? Wir verdrängen es oft sowohl in Deutschland als auch in Tschechien, wobei in der Tschechischen Republik gilt es bis heute als ein Tabu. Dabei wäre gerade das offene Reden der Schritt zur Heilung.
Am Heiligenhof an jenem Abend sagte niemand mehr ein Wort. Aber ich glaube, jeder von uns nahm etwas mit. Einen dunklen Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen, wenn wir es zulassen.
Deutsch https://www.henryertner.com/der-dunkle-spiegel-tschechischer-geschichte/
English https://medium.com/@henryertner/a-dark-mirror-of-czech-history-2fb55a0e6dd8
Česky https://medium.seznam.cz/clanek/henry-ertner-temne-zrcadlo-pravdy-ceskych-dejin-169107
Quellen
BODE, Sabine, 2009, Kriegsenkel: Die Erben der vergessenen Generation, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart
HEART, Maria Yellow Horse Brave, 2003, ‘The Historical Trauma Response among Natives and Its Relationship with Substance Abuse: A Lakota Illustration’, Journal of Psychoactive Drugs, 35/1, 7–13 https://doi.org/10.1080/02791072.2003.10399988 [17. Juli 2025]
HEINZEL, Sebastian, 2019, Der Krieg in mir https://german-documentaries.de/en_EN/films/the-war-in-me.12919
FOGELMAN, Eva 1994, Conscience and Courage: Rescuers of Jews During the Holocaust (New York: Anchor Books), ISBN 0‑385‑42027‑7 / 978‑0‑385‑42027‑3 https://www.penguinrandomhouse.com/books/54095/conscience-and-courage-by-eva-fogelman/
YEHUDA, R., 2015, Transgenerational transmission of trauma: How trauma affects child development, in: Psychiatric Times, Vol. 32, No. 11, https://www.psychiatrictimes.com/view/transgenerational-transmission-trauma-how-trauma-affects-child-development [17. Juli 2025]
Transgenerational trauma – violence shapes us https://medicamondiale.org/en/violence-against-women/overcoming-trauma/transgenerational-trauma#:~:text=,mountain%20village%20in%20South%20Tirol
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