„Nur ein Taschentuch zum Weinen“ dieser Satz, geprägt von Dr. Ortfried Kotzian selbst, fasst die Tiefe seines Vortrags im Heiligenhof eindrücklich zusammen. Er sprach über Vertreibung, die Wunden von 1945 und rief mit stiller Würde zu Menschlichkeit und Versöhnung auf.
Am 5. Juli 2025 sprach Dr. Ortfried Kotzian in der Bildungsstätte Heiligenhof über das Schicksalsjahr 1945. Sein Vortrag war eine persönliche und zugleich kollektive Erinnerung, geschildert mit Klarheit, Würde und einem Hauch leiser Melancholie. Ich war dabei und möchte diesen bewegenden Moment mit euch teilen.
Ein Leben für Bildung, Erinnerung und Menschlichkeit
Dr. Kotzian, geboren 1948, ist einer der prägendsten Vermittler der Geschichte der Deutschen aus dem Osten. Als Schüler, Lehrer, Forscher, Direktor des Hauses des Deutschen Ostens und Mitbegründer des Bukowina-Instituts hat er jahrzehntelang geforscht und erklärt. Seine Vorträge sind keine trockenen Geschichtsstunden, sondern Begegnungen, mit den Menschen, mit der Vergangenheit, mit der Wahrheit.
Am Heiligenhof ist er ein Stammgast. Kein anderer hat öfter dort gesprochen. Dass er diesmal nicht wie geplant am Freitagabend, sondern am Samstagvormittag auftrag, war ein Glück, der Saal war voll, die Aufmerksamkeit spürbar.
Seinen Vortrag begann Kotzian mit einer Erinnerung. Als Zehnjähriger war er 1958 erstmals im Zeltlager des Heiligenhofs „zur Kindererholung“, wie es damals hieß. Was er später über das Schicksal seiner Eltern und seine eigene Herkunft erzählte, ging tief. Kein theoretischer Einstieg, sondern eine persönliche Geschichte als Schlüssel zur kollektiven Erfahrung.
„Die zu Gebärende hat frei von Ungeziefer und ansteckenden Krankheiten zu sein.“
Dr. Kotzian
So stand es im Einberufungsschein für seine Mutter, als sie ihn 1948 in einer Entbindungsanstalt für Flüchtlingsfrauen zur Welt bringen sollte, ein entlarvendes Dokument der „Willkommenskultur“ der Nachkriegszeit in Deutschland.
Dr. Kotzian gliederte das Jahr 1945 systematisch
Den Auftakt bildete der Kriegsverlauf, insbesondere die sowjetische Offensive ab Januar. Der Vormarsch der Roten Armee ab der Weichsel markierte eine Wende, die viele Zivilisten unvorbereitet traf. Während sich die Westfront noch langsam formierte, stießen sowjetische Truppen in Gebiete wie Ostpreußen, Schlesien und am Rande auch in die Tschechoslowakei vor.
In dieser Phase begannen bereits großflächige Fluchtbewegungen, aber auch erste Deportationen. Besonders betroffen waren deutsche Minderheiten in Rumänien, Jugoslawien und der Bukowina, die zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt wurden. Allein aus Rumänien traf es über 80.000 Menschen, darunter auch 4.500 Sudetendeutsche. Für sie bedeutete das fünf Jahre Kohlegrube, Kälte, Hunger. Viele starben. Wer überlebte, kehrte meist erst 1955 heim, in ein anderes Europa.
Dann folgte die zweite Phase, die sogenannten „wilden Vertreibungen“. Noch bevor internationale Vereinbarungen vorlagen, überzogen Hass, Rache und Enthemmung das Land. Der Prager Aufstand vom 5. Mai 1945, war Auftakt für eine Gewaltwelle, die Dr. Kotzian ungeschönt darlegte.
Tschechische Revolutionäre Gardisten trieben Deutsche aus ihren Häusern, erschossen Männer, trieben Frauen und Kinder durch Straßen, auf Todesmärsche, in Lager, Massaker wie in Postelberg, oder Brünn.
In einem letzten Schritt schilderte Dr. Kotzian die politischen Folgen. Auf Druck der Alliierten kam es ab Januar 1946 zu den „geregelten Vertreibungen“, geplant in Potsdam, ausgehandelt zwischen Prag und den Besatzungsmächten.
Parallel wurden Millionen Menschen enteignet durch die Beneš-Dekrete, später juristisch abgesichert durch ein Straffreistellungsgesetz, das auch Morde an Deutschen nachträglich legalisierte.
Die Vertreibung seiner Familie
Seine Mutter mit einem kleinem Baby wurde im Mai 1945 aus Pommerndorf im Riesengebirge vertrieben. Innerhalb von drei Stunden musste sie ihr Haus verlassen. In Hohenelbe wurde sie interniert, danach nach Thüringen deportiert.
„Die alten Leute waren alle gleich “gesund”, weil die Tschechen über ihre Köpfe hinweg geschossen haben, dann konnten sie alle wieder laufen.“
Dr. Kotzian
Bitterer Sarkasmus, aber wahr. Dr. Kotzians Mutter überlebte den Todesmarsch. Sie versteckte noch ihre Tagebücher unter dem Dach vor dem sie gegangen sind, die Jahrzehnte später zurückkehrten.
Erinnerung und Versöhnung
Dr. Kotzians Vater, Kriegsgefangener in englischer Haft, fand seine Frau erst Jahre später wieder, über den Bürgermeister eines sächsischen Dorfes. Ihre Briefe erzählen von Hunger, Trennung, Liebe und Hoffnung.
„Nehmt den Deutschen alles, lasst ihnen nur ein Taschentuch, in das sie weinen können.“
Hana Benešová (angeblich)

Dieses Zitat, angeblich von Hana Benešová, ist historisch nicht gesichert, aber tief verwurzelt im kollektiven Gedächtnis. Für Dr. Kotzian ist es Ausdruck einer Demütigung, die Generationen prägte. Ob Brünner Todesmarsch, Massaker von Postelberg, Dr. Kotzian benennt die Verbrechen, ohne zu hetzen. Er schildert die Vorgänge, die zur organisierten Vertreibung führten.
Dr. Kotzian hebt hervor, dass Rumänien heute Bücher über die Deportation seiner deutschen Minderheit kostenlos an deren Nachkommen verteilt und fragt, warum es solche Erinnerungsinitiativen in Deutschland kaum gibt?
In einer Zeit, in der Geschichtsvergessenheit und neue Nationalismen zunehmen, ist Kotzians ruhige, kluge Stimme ein Segen. Sein Vortrag war kein politisches Statement, sondern ein Appell an unsere Menschlichkeit.
Dr. Kotzian endete mit der Gründung der Flüchtlingsverwaltung Bayerns Ende 1945, ein pragmatischer Schritt, um ein humanes Überleben der Vertriebenen zu ermöglichen. Denn es ging nicht nur um Zahlen, sondern um Menschen. Dieser Vortrag bleibt in meinem Herzen wegen seiner Haltung, wegen seiner Würde, dem Respekt und der Versöhnung. Er erinnert uns daran, dass Geschichte nicht vergangen ist. Sie lebt in unseren Familien, in unseren Gedanken, in den Tagebüchern unserer Großeltern. Wir müssen sie lesen, weitergeben und uns um eigene bessere Zukunft kümmeren.
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