Rübezahl lebt, als Sage, als Erinnerung, als Verbindung. Trotz Vertreibung und Sprachverlust blieb seine Gestalt erhalten. In Tschechien wurde er zu Krakonoš, zum Fernsehhelden. Eine Figur, die zeigt, dass Identität lebt im Erzählen, nicht im Besitz.
Es hat länger gedauert, bis ich diesen Beitrag schreiben konnte. Der Brünner Marsch und die Erfahrungen, die ich dort machen durfte, haben in mir mehr bewegt, als ich erwartet hatte.
Doch ich hatte es versprochen, mein Beitrag zum Vortrag über Rübezahl zu schreiben. Ein Thema, das auf den ersten Blick märchenhaft wirken mag, aber gleichzeitig so tief verwurzelt in unserer mitteleuropäischen Geschichte, dass es fast ein Wunder ist, wie lebendig diese Figur geblieben ist, trotz allem. Rübezahl, dieser launische Berggeist, Beschützer der Kinder und Armen, Rächer der Betrogenen, Beherrscher des Wetters und Hüter der Wälder.
„Wenn die Leute böse sind oder ihn verspotten, dann reagiert er am sauersten.“
Der Vortrag von Prof. Dr. Samerski war nicht nur eine Einführung in eine Sagengestalt, sondern eine Reise durch die Tiefenschichten eines kulturellen Gedächtnisses, das sich nicht so einfach ausradieren lässt.
Das ist keine poetische Übertreibung. Rübezahl, auf Tschechisch Krakonoš genannt, ist ein Beweis dafür, dass mündlich überlieferte Geschichten stärker sein können als politische Systeme, Sprachverdrängung und nationale Brüche.

Die erste schriftliche Überlieferung ist aus dem Jahr 1561. Der Name steht auf der Karte an der Stelle, wo man den höchsten Berg der heutigen Tschechischen Republik, der Schneekoppe, vermuten würde. Ausgehend von der Positionierung von Trautenau, der Gegend aus der ich stamme.
Im 19. Jahrhundert wurde Rübezahl schon international aufgestellt, wie Prof. Samerski es nannte. Die Brüder Grimm griffen seine Gestalt auf, Musäus widmete ihm eine ganze Erzählung, samt Prinzessin Emma, die er mit verzauberten Rüben umgarnen wollte, und auch Otfried Preußler verarbeitete seine Erzählungen.
Die Sage selbst ist älter, tief im Riesengebirge verwurzelt. Sie entstand nicht aus Literatur, sondern aus der Leidenschaft, aus Wind und Wetter, aus Fels und Wald, aus den Unsicherheiten und Sehnsüchten der Menschen, die dort lebten. Genau hier beginnt das eigentliche Wunder. Diese Figur lebt weiter, selbst wenn alles andere sich verändert, selbst wenn die Sprache wechselt. Nach 1945 wurden deutsche Ortsnamen im Riesengebirge ausradiert. Sudetendeutsche Familien wurden vertrieben. Märchen und Sagen kann man nicht vertreiben.
Die tschechische Nachfolgefigur Krakonoš machte Karriere. In der Tschechoslowakei wurde er zur Hauptfigur einer Gutenachtserie für Kinder, eine Sendung, die ganze Generationen prägte.
„Diese Krakonoš Geschichte, diese tschechische Kinderserie, ist 2013 zur beliebtesten Kinderserie der Tschechischen Republik gewählt.“
Aus dem schroffen Geist der Berge ist eine listige, liebevolle Figur geworden, ein Helfer der Unterdrückten, ein moralischer Kompass in Fernsehform. Die Sage hat sich verwandelt, der Name wurde geändert, aber der Kern ist geblieben.
Was bedeutet das für uns heute?
Sagen sind mehr als Geschichten, sie sind Speicher von Ängsten, Hoffnungen, kollektiven Erfahrungen, sie sind kein völliges Fantasieprodukt, sondern haben immer einen wahren Kern. Sagen entstehen dort, wo Geschichte auf Gefühl trifft, wo Natur zur Metapher wird, wo Erinnerung sich in Erzählung verwandelt, um nicht verloren zu gehen.
Deshalb ist es kein Zufall, dass gerade das Sudetenland, ein so tief von Umbrüchen, Brüchen, Grenzziehungen geprägter Raum, eine solche Fülle an Sagen hervorgebracht hat.
„Ich glaube, es gibt kaum eine Region Europas, die so viel für die Sagenwelt beisteuert.“
Verstehen wir unsere Geschichte, unsere Herkunft, unsere Landschaft und sich selbst besser durch Sagen? Ich würde sagen ja. Denn sie erinnern uns daran, dass wir als Menschen immer wieder versuchen, unsere Welt zu deuten. Auch wenn sie sich verändert, auch wenn sie völlig anders wird.
Vielleicht ist genau das der Grund, warum Rübezahl nicht verschwunden ist. Warum er auch nach der Vertreibung überlebt hat, warum Kinder in Polen und Tschechien noch immer Geschichten über ihn hören, warum sogar im Nationalsozialismus, in der DDR, in der kommunistischen Tschechoslowakei keine Ideologie Rübezahl vollständig vernichten konnte.
„Rübezahl ist nicht auszurotten.“
Es war einer dieser Sätze, die im Saal wie ein stilles Echo nachhallen. Ich musste daran denken, wie viele Sprachen und Erinnerungen in Europa in den letzten hundert Jahren verdrängt, gebrochen, übermalt wurden. Aber manchmal setzen sich Bilder durch und es bleibt etwas und wird weitergetragen.
Dieses Bild ist aus dem heutigen Trutnov mit der Schneekoppe im Hintergrund.

Was erzählt uns das über Identität?
Vielleicht, dass Identität nicht im Besitz liegt, sondern im Erzählen. Erinnerung werden weitergegeben, auch wenn die Sprache wechselt. Wir betreten durch Figuren wie Rübezahl einen Raum des Miteinanders, jenseits von Schuld, Rache und Vertreibung.
Ich bin dankbar, dass ich diesen Vortrag hören durfte. Er hat mir einmal mehr gezeigt, wie wertvoll die Verbindung von deutscher und tschechischer Tradition ist, nicht als politisches Projekt, sondern als lebendige Erzählgemeinschaft. Die Märchen und Sagen sind wunderbare Brücken der Versöhnung, nicht Zäune der Trennung.
Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir Rübezahl nicht nur als deutsche oder tschechische Figur begreifen, sondern als ein Symbol für Wandel, für Verbindung, für das, was erhalten bleibt.
Eines ist sicher, solange Kinder abends Geschichten erzählt bekommen, wird Rübezahl weiterleben, nicht immer in derselben Sprache, aber immer im selben Geist.
Ich freue mich schon heute auf den Teil 3 der Vortragsreihe „Phantastisches Böhmen“ mit Prof. Dr. Stefan Samerski zum Thema „Geister in Kirchen und Burgen“. Der Vortrag findet am 22. September 2025 um 19:00 Uhr im Adalbert-Stifter-Saal im Sudetendeutschen Haus statt. In einem Haus, in dem alles auch auf Tschechisch beschriftet ist.

Deutsch Rübezahl lebt, die unbesiegbare Kraft der Sage – www.henryertner.com
English https://medium.com/@henryertner/rubezahl-lives-the-unconquerable-power-of-legend-dead3777f7fe
Česky https://medium.seznam.cz/clanek/henry-ertner-rybrcoul-zije-aneb-nepremozitelna-sila-povesti-161287
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