Prof. Jürgen Kocka sprach in Prag über Deutschlands komplexe Erinnerungskultur, über NS-Verbrechen, die Deutschen als Opfer, Vertreibung und den Aufstieg des Populismus. Seine Überlegungen sind ein wertvoller Beitrag zur Verteidigung der Demokratie.

Am 13. Mai 2025 empfing die Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik einen der renommiertesten deutschen Historiker unserer Zeit, Prof. Jürgen Kocka. In einem voll besetzten Hörsaal in der Národní 3 in Prag lauschten Wissenschaftler, Studierende und interessierte Zuhörer seinem Vortrag „Memory, Conflict and Research. Dealing with a Difficult Past“. Veranstaltet wurde das Event vom Collegium Carolinum, dem Deutschen Historischen Institut Warschau und dem Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europas.

Henry Ertner Akademie věd Prof. Jürgen Kocka

Prof. Kocka, 1941 im nordböhmischen Hejnice (Haindorf) geboren und als Kind vertrieben, ist in besonderer Weise prädestiniert, über die verflochtenen deutsch-mitteleuropäischen Geschichtsbeziehungen zu reflektieren. Seine akademische Laufbahn führte ihn nach Bielefeld, Berlin, UCLA und seine Forschung prägt den internationalen Diskurs über die moderne Sozialgeschichte.

Der Vortrag bot eine umfassende Analyse, wie Deutschland mit seiner schwierigen Vergangenheit des 20. Jahrhunderts, der NS-Diktatur, ihren Verbrechen sowie den Folgen von Flucht und Vertreibung, umgegangen ist. Kocka zeichnete dabei die unterschiedlichen Herangehensweisen von Bundesrepublik und DDR nach. Während der Westen einen schmerzhaften, langwierigen und selbstkritischen Aufarbeitungsprozess begann, stellte der Osten den Nationalsozialismus als kapitalistische Entgleisung dar und grenzte sich vom Schuldvorwurf ab.

„Commemoration becomes more abstract, less concrete, more institutionalized, more routinized“

„Das Gedenken wird abstrakter, weniger konkret, stärker institutionalisiert und routinierter.“

Prof. Kocka beschrieb damit die Herausforderungen der jüngeren Generationen, den Bezug zur Geschichte wachzuhalten. Der zweite Teil seines Vortrags widmete sich den Deutschen als Opfer, insbesondere den Millionen, die Flucht und Vertreibung erlitten. Kocka hob hervor, wie schwer und politisch aufgeladen dieses Thema über Jahrzehnte blieb, da viele Vertriebenenverbände legitime Erinnerung mit territorialen Forderungen verbanden. Erst nach 1990, mit der endgültigen Anerkennung der deutschen Ostgrenzen, wurde eine Aussöhnung mit den Nachbarländern und eine offenere Erinnerungskultur möglich.

Besonderes Lob fand Kocka für die wachsende Rolle von Museen und lokalen Initiativen, wie etwa das Isergebirgsmuseum in Bayern, die heute einen Dialog über frühere nationale Grenzen hinweg ermöglichen.

Seine nachdrücklichste Passage widmete Prof. Kocka jedoch aktuellen Entwicklungen. In den letzten Jahren erlebte Deutschland einen Aufstieg des Rechtspopulismus, verkörpert durch die Alternative für Deutschland (AfD).

„AfD speakers have demanded a 180-degree reversal of the course of our historical culture,“

„Redner der AfD forderten eine vollständige Kehrtwende um 180 Grad in unserer Erinnerungskultur.“

Die AfD versuche, die Bedeutung der NS-Diktatur herunterzuspielen und als minimale, entschuldbare Entgleisung, als Dummheit, darzustellen.

An dieser Stelle möchte ich einen persönlichen Kommentar hinzufügen. So sehr ich Prof. Kockas analytische Vorsicht nachvollziehe, so bin ich doch überzeugt, dass der Aufstieg der AfD auch ein Ausdruck wachsender Unzufriedenheit in Teilen der Bevölkerung ist. In Ost- wie Westdeutschland fühlen sich viele Menschen von den traditionellen Parteien nicht mehr ausreichend vertreten. Der Zulauf zu populistischen Bewegungen hat daher nicht nur mit der Erinnerungskultur, sondern auch mit sozialer Frustration zu tun.

Ein tschechisches Sprichwort bringt diesen Zusammenhang sehr treffend auf den Punkt.

„Kdo seje vítr, sklízí bouři“

„Wer Wind sät, wird Sturm ernten.“

Deutschland, ein Land, das leidvolle Erfahrungen mit den Folgen politischer Radikalisierung gemacht hat, darf nicht vergessen, dass soziale Entfremdung auch die stabilsten demokratischen Werte untergraben kann. Umso wichtiger ist es, dass Wissenschaft und Zivilgesellschaft wachsam, aktiv und dialogbereit bleiben. Nur durch das Verständnis der Ursachen gesellschaftlicher Unzufriedenheit können demokratische Institutionen Vertrauen und Legitimität zurückgewinnen. Gerade deshalb sind Beiträge wie jener von Prof. Kocka heute wichtiger denn je.

Als Forscher im Bereich der Sprachwissenschaft und kollektiver Erinnerung sehe ich interessante Parallelen. So wie oft in der dritten Generation das sprachliche Erbe verloren geht, wie ich es in meiner Forschung zur deutschen Heritage Language im Riesengebirge zeigen konnte, so scheint auch das historische Bewusstsein für die demokratischen Grundpfeiler Deutschlands zu verblassen. Umso notwendiger ist die aktive Erinnerungsarbeit, sowohl lokal als auch transnational.

„Historians are better in describing and explaining the past than in predicting the future.“

„Historiker sind besser darin, die Vergangenheit zu beschreiben und zu erklären, als die Zukunft vorherzusagen.“

Damit schloss Prof. Kocka seinen Vortrag und bot damit eine nachdenkliche Reflexion über die bleibenden Herausforderungen. Mein besonderer Dank gilt Prof. Kocka, den Veranstaltern sowie allen Teilnehmern, die diesen Abend in Prag zu einem eindrucksvollen intellektuellen Austausch gemacht haben. Der Vortrag war ein wertvoller Beitrag zu einer aktuellen und notwendigen Debatte.

Deutsch Prof. Kockas Warnung aus Prag: Was wir gerade dabei sind zu vergessen?

Original Prof. Kocka’s Warning from Prague: What Are We About to Forget?

Česky Varování profesora Kocky z Prahy: Na co právě zapomínáme?


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