Warum war die Vertreibung der Sudetendeutschen so radikal? Prof. Dr. Manfred Kittel analysierte ihre historische Härte. Ein bewegender Aufruf zum Erinnern, Verstehen, Vergeben und zur Versöhnung.
Am 5. Juli 2025 sprach Prof. Dr. Manfred Kittel im Rahmen des Seminars „80 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs – Gedenken und Lernen“ im Heiligenhof über die Beneš-Dekrete und ihren Ort in der Geschichte ethnischer Vertreibungen. Ich saß da, hörte zu und rang innerlich mit der Frage, wie man Verbrechen benennt, ohne neue Gräben zu reißen? Prof. Kittel hat es versucht und ich will es auch.
Gehört die Vertreibung der Sudetendeutschen zu den dunkelsten Kapiteln des 20. Jahrhunderts? Ist sie einzigartig in ihrer Härte?
Nirgendwo so radikal wie in der Tschechoslowakei
„Die tschechischen Politiker waren bei der Vertreibung der Deutschen um keinen Deut weniger brutal als die Nationalsozialisten bei ihren ethnischen Säuberungen im Osten.“
Prof. Kittel zitiert Norman Naimark (amerikanischer Historiker)
Ein harter Satz, vielleicht zu hart? Aber er rührt an etwas, das im offiziellen Diskurs zu oft fehlt. Das, was uns fehlt ist ein Vergleich. Denn Vertreibungen gab es viele. Aber nirgends mit dieser Konsequenz, nirgends mit dieser Geschwindigkeit, nirgends mit dieser offiziellen Billigung durch Gesetz und Gesellschaft.
Prof. Kittel zeigte das nüchtern auf. In Belgien wurden 7 % der deutschen Volksgruppe entrechtet, aber niemand kollektiv vertrieben. In Südtirol durften die Deutschen sogar zurückkehren. In Dänemark musste kein einziger Deutscher gehen und im französischen Elsass? Selbst NS-Kollaborateure wurden individuell verurteilt, nicht kollektiv verstoßen. Nur in Polen war die Situation vergleichbar. Dort, wie in Tschechien, vollzog sich die Vertreibung unter direktem Einfluss der Sowjetunion, unter dem Schatten Stalins und im Machtbereich eines Systems, das Gewalt zur politischen Methode erhoben hatte.

Warum gerade Tschechien?
Die Antwort ist unbequem. Weil hier besonders viel „Sprengstoff“ war, nicht wörtlich, aber im übertragenen Sinn.
„Hitler musste diesen Sprengstoff nicht herbeischaffen, er musste ihn nur noch zünden.“
Prof. Kittel
Jahrzehntelange Spannungen, die nationalistische Aufladung, die Größe der Minderheit, die tschechoslowakische Vorkriegspolitik, die gewonnen Wahlen 1935, die Ablehnung von Masaryk und Beneš, das Protektorat, Heydrich und Lidice und vieles mehr, all das staute sich auf und explodierte schließlich 1945.
Im Vergleich zu Südtirol (250.000 Deutschsprachige) oder Eupen-Malmedy (60.000) waren die 3 Millionen Sudetendeutschen in einer anderen Dimension. Die Eskalation war brutal, einzigartig und genau das muss gesagt werden dürfen, ohne die Schuldfrage der NS-Zeit zu relativieren. Denn es geht hier nicht um Umdrehen, sondern um Verstehen.
Brücken bauen trotz alledem?
Ja, auf jeden Fall, denn trotz aller Differenz, trotz allem Schmerz, trotz allen Unrechts, die Wahrheit ist komplex und vielschichtig. Edvard Beneš war kein Kommunist, auch viele tschechische Demokraten stimmten der Vertreibung zu unter dem drückenden Schatten der Roten Armee und unter dem klaren Diktat Moskaus. Ein Diktat, das erneut Leben zerstört, heute in Butscha, wie einst in Brünn, in Aussig, in Postoloprty. Russland hat nicht bereut und wiederholt, was es nie aufarbeiten musste.
„Was bis heute schwer zu ertragen ist, selbst das winzige Grüppchen überlebender Juden, das sich, wie viele böhmische Juden, als deutsch fühlte und dies in Volkszählungen auch so angab, wurde nach 1945 vertrieben. Auch Max Mannheimer gehörte zu jenen, die trotz aller Leiden erneut entrechtet wurden nur weil sie sich zum Deutschtum bekannten.“
Prof. Kittel
Es ist diese Stelle, die mir die Kehle zuschnürte. Weil sie zeigt, wie weit Hitlers Geist reichte, weil sie zeigt, dass Kollektivschuld immer auch Unschuldige trifft und weil sie zeigt, dass wir heute eine Verantwortung haben. Die Verantwortung, den Schmerz zu benennen und dennoch die Hand zur Versöhnung zu reichen.
Ich bin da und höre zu. Ich schreibe diese Worte auf Deutsch, auf Tschechisch auf English und ich frage mich, wie wir aus all dem lernen können? Sollten wir nicht weniger schweigen? Nicht weniger relativieren? Nicht weniger hassen?
Falls wir es nicht tun, bedeutet es, dass Hitlers Geist weiterlebt? Er lebt weiter, wenn wir schweigen, wenn wir die Geschichte verdrängen, oder wenn wir sie instrumentalisieren.
Lasst uns also reden, lasst uns schreiben, erinnern und vor allem vergeben.
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