Mit ausgeliehenem Flugzeug in die Hölle. 1945 flog Alma Reitzner als sudetendeutscher RAF-Offizier nach Prag, sah Misshandlungen, Folter und Morde und schwieg, damit er berichten konnte.
Am Heiligenhof in Bad Kissingen saß Ulrich Miksch wieder am Rednerpult. Still, mit diesem besonderen Tonfall der Leidenschaft. Er sprach von einem Mann, der 1945 tat, was kaum einer wagte. Er sprach über Alma Reitzner. Ein Sudetendeutscher aus Bodenbach (Podmokly), ein Sozialdemokrat, ein Navigator der Royal Air Force. Almar war kein Spion, sondern ein Beobachter in den Diensten der Wahrheit.

Ulrich Miksch las aus dem Bericht, den Almar Reitner nach seiner Rückkehr zusammenfasste.
„An einem schönen Vorsommertag des Jahres 1945 rollte meine Maschine über die lange Anlaufbahn. Die Sonne brannte heiß.“
Almar Reitzner
Reitzner flog von England nach Prag in einer RAF Maschine. Wie es dazu kam, ist bis heute ein Geheimnis. Er war nicht getarnt, sondern in seiner RAF Uniform. Ja, Sie lesen richtig, ein sudetendeutscher in einer englischen Uniform, er hat als Navigator gedient. Almar hate ein klares Ziel, das in keinem offiziellen Auftrag stand, herausfinden, was mit den Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei wirklich passiert.
Seine Familie waren lauter Sozialdemokraten aus Bodenbach. Sein Vater, Richard Reitzner, vor dem Krieg in der Tschechoslowakei aktiv, nach dem Krieg Bundestagsabgeordneter und Flüchtlingspolitiker. Doch was der junge Almar sah, ließ sich mit keiner diplomatischen Formel entschärfen.
„Aus einem Schuppen quoll ein Strom von etwa 100 Menschen. Sie zogen in Dreierreihen dahin, langsam und gebeugt. Denn sie waren mit Ketten, die an den Füßen befestigt waren, untereinander verbunden. Auf der Brust trugen sie ein weißes Schild mit einem großen, schwarzen N.“
Almar Reitzner
Alma Reitzner hatte in den 1930er Jahren selbst Tschechisch gelernt, in Kopidlno im Böhmischen Paradies. Er konnte hören und verstehen, was um ihn herum gesprochen wurde. Doch an diesem Tag durfte er nicht sprechen. Er konnte niemandem helfen. Er musste ruhig bleiben, um überhaupt berichten zu können. Würde er eingreifen, protestieren, wäre er verhaftet worden. Dann wäre alles umsonst gewesen. Er reiste weiter ins Grenzgebiet, unter anderem nach Bodenbach und Aussig. Was er dort sah, ging weit über das hinaus, was man bis heute in den meisten Geschichtsbüchern liest.
„Sie wurden verfolgt und mit Latten niedergeschlagen. Frauen mit ihren Kindern wurden von der alten Elbebrücke in die Elbe gestürzt.“
Almar Reitzner
Die Züge nach Bodenbach, überfüllt mit sogenannten Zlatokop, tschechischen Goldgräbern, die Beutezüge in die deutschen Städte unternahmen.
„Aus den Gesprächen der zahlreichen Reisenden war zu entnehmen, dass sie vor allem in Sorge darüber waren, es sei alles bereits weggeholt.“
Almar Reitzner
Alma Reitzner war kein ungeschickter Abenteurer. Er wusste, wie er sich bewegen musste.
„Ich sagte, dass ich zu einer englischen Delegation gehöre. Dank der Leichtgläubigkeit der tschechischen Polizeiorgane, die vor Engländern und Amerikanern großen Respekt zu haben schienen, konnte ich mich ziemlich frei bewegen.“
Almar Reitzner
Ein entscheidender Punkt, er brauchte keine gefälschten Papiere. Er zeigte englische Dokumente, und die Uniform der Royal Air Force machte den Rest. In Bodenbach fand er seine Familie und alte Freunde wieder. Was sie ihm erzählten, sprengte jedes Maß.
„Die Elbestädte Tetschen-Bodenbach hatten zu Friedenszeiten ungefähr 42.000 Einwohner. 32.000 Deutsche waren inzwischen nach Deutschland ausgetrieben oder in das Innere des Landes verschleppt worden.“
Almar Reitzner
Er hörte von Konzentrationslagern, von Misshandlungen, von Morden. Was ihn besonders traf war die Ohnmacht der Menschen. Reitzner notierte alles Wort für Wort. Nicht für sich, sondern für London und für die Welt.
Reitzner blieb der Tschechoslowakei treu. Als sudetendeutscher Sozialdemokrat und Navigator der Royal Air Force kämpfte er gegen das NS-Regime, überzeugt von Freiheit und Gerechtigkeit. Umso bitterer war es für ihn, nach Kriegsende zu erleben, wie genau jene Werte verraten wurden. Reitzner musste machtlos mitansehen, wie seine eigenen Landsleute, deutsche Bürger aus Böhmen und Mähren, öffentlich gedemütigt, geschlagen, ausgeplündert und ermordet wurden.
Er stand in Uniform da, offiziell als Sieger, innerlich jedoch zerrissen. Denn was er sah, waren keine Täter, sondern Frauen, Kinder, alte Menschen, die von Gewalt und Hass überrollt wurden. Doch er durfte nicht eingreifen: Hätte er sich offenbart, wäre sein Bericht nie zurück nach London gelangt. So trug er still das Gewicht der Bilder in sich, um später wenigstens davon zu erzählen.
Ulrich Miksch sagte am Heiligenhof leise.
„Alma Reitzner musste schweigen, damit er später reden konnte.“
Ulrich Miksch
Reitzners Bericht blieb weitgehend unbeachtet. Es gab Artikel im Daily Herald, im Manchester Guardian, in tschechischen Exilblättern in London. Aber keine breite Öffentlichkeit, die sich für das Schicksal der Sudetendeutschen interessiert hätte.

Almar kehrte mit seinem Flieger zurück nach England. Sein Einsatz brachte ihm nicht Ruhm. Im Gegenteil, innerhalb der Royal Air Force wurde er degradiert. Später als Journalist, als Chefredakteur der Brücke, als Rundfunkredakteur in Bayern, erzählte er weiter, aber der ganz große Durchbruch blieb aus.
Vielleicht, so sagte jemand an diesem Abend halblaut, vielleicht müsste man diese Geschichte heute verfilmen. Ein junger RAF-Offizier, der als Sudetendeutscher in englischer Uniform nach Prag fliegt, fließend Tschechisch spricht, keine Fiktion, sondern Wahrheit. Es war keine Spionage, auch kein Heldentum. Almar war ein Mensch, der es nicht ertragen konnte, dass keiner hinschaut.
Vielleicht wird es Zeit, vielleicht braucht es jetzt genau so einen Film, damit aus dem Schweigen endlich ein klares Bild wird.
Deutsch https://www.henryertner.com/mit-ausgeliehenem-flugzeug-in-die-hoelle/
English https://medium.com/@henryertner/flying-a-borrowed-plane-into-hell-43a54356104b
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